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Interview

Forensisches Gutachten: Muss der Fall Oury Jalloh neu aufgerollt werden?

2005 ist Oury Jalloh in einer Dessauer Polizeizelle verbrannt. Die genauen Umstände seines Todes konnten nicht geklärt werden, mittlerweile ist der Fall zu den Akten gelegt. Doch einige beschäftigt der Fall weiterhin. Nun liegt ein neues forensisches Gutachten vor. Im Interview ordnet die Journalistin Margot Overath die neue Entwicklung ein.

Der Fall des 2005 in einer Dessauer Polizeizelle verbrannten Oury Jalloh ist zu den Akten gelegt worden. Doch einige beschäftigt der Fall noch immer. So gibt es ein neues forensisches Gutachten des Rechtsmediziners und Radiologieprofessors Boris Bodelle von der Universitätsklinik Frankfurt. Dieses legt nahe, dass Jalloh Verletzungen zugefügt wurden – vor seinem Tod. Schädel, Nasenbein, Nasenscheidewand und eine Rippe waren demnach gebrochen. Das Gutachten hatte die Initiative "Gedenken an Oury Jalloh" in Auftrag gegeben.

Die Journalistin und Autorin Margot Overath hat den Fall seit Beginn begleitet. Im Interview erklärt sie, wie es nun weitergehen könnte.

MDR: Frau Overath, wie verändern diese neuen Erkenntnisse das hochkomplizierte Gesamtbild im Fall Oury Jalloh?

Margot Overath: Eigentlich ist ja schon seit 2017 bekannt, dass die Suizidvariante der Justiz nicht zu halten ist. Der Dessauer Oberstaatsanwalt Folker Bittmann hatte bereits entsprechende Ermittlungen vorbereitet. Daraufhin wurde ihm jedoch der Fall entzogen. Insofern freut mich natürlich, dass dies durch ein weiteres wissenschaftliches Gutachten bestätigt wurde. Es zeigt mir aber zum wiederholten Mal, dass sich die Justiz in Sachsen-Anhalt von der Wahrheitsfindung unabhängig gemacht hat.

Die Leiche von Oury Jalloh wurde drei Monate nach dem Tod nach Frankfurt am Main überführt, zur gerichtsmedizinischen Untersuchung. Warum sind Jallohs Verletzungen an Kopf und Weichteilen sowie der Rippenbruch nicht damals schon veröffentlicht worden?

Weil dieses Mal ein Verfahren zur Untersuchung des Bildmaterials angewendet wurde, das 2005 zwar schon vorhanden war, aber nicht zum Einsatz kam. Mit dem Verfahren hätten damals schon die massiven Verletzungen festgestellt werden können und auch, dass Oury Jalloh noch lebte, während er misshandelt wurde. 2005 wurde noch gesagt, dass die Verletzung postmortal entstanden sein können. Aber jetzt wurden auch mehrere Weichteilverdickungen infolge von Entzündungen gefunden – und die können nicht postmortal entstehen.

Die Justiz in Sachsen-Anhalt hat den Fall dennoch abgeschlossen. Das Oberlandesgericht in Naumburg verwarf den Antrag eines Verwandten Jallohs auf Klageerzwingung als unzulässig, hieß es am 23.10.2019 in einer Mitteilung. Damit ist eine Initiative seiner Familie zu einer weiteren juristischen Aufklärung gescheitert. Warum?

Das hat viele Gründe. Erst einmal gab es keine ernstzunehmende Tatortarbeit. Alle Indizien gingen verloren oder wurden vernichtet. Und dann ist das OLG, wie auch schon der Generalstaatsanwalt, bei der Suizidversion geblieben. Sie sind damit dem Magdeburger Urteil von 2012 gegen den Dienstgruppenleiter Andreas S. gefolgt. Dieses Urteil wurde zwar rechtskräftig, aber die vorsitzende Richterin hatte schon im Urteil und auch in der mündlichen Urteilsbegründung ihre Zweifel an der Suizidvariante deutlich gemacht.

Nach Angaben der Initiative "Gedenken an Oury Jalloh" war dem Oberlandesgericht in Naumburg dieses neue Gutachten der Universität Frankfurt bereits im September zugestellt worden. Die Initiative glaubt nun, dass das Gericht seine Entscheidung gegen einen neuen Prozess bereits in der vergangenen Woche bekannt gegeben hat, um der Veröffentlichung dieses neuen Gutachtens zuvor zu kommen. Hat das eine Beweiskraft oder ist es einleuchtend?

Das leuchtet mir schon ein, denn die Justiz hat sich ja von Anfang an auf diese Suizidversion festgelegt. Es wurden auch beweisbare Tatsachen, die dagegen sprachen, nicht ernst genommen und nicht zur Kenntnis genommen. Und jetzt ist es so, dass das OLG eine Entscheidung getroffen hat, die nicht anfechtbar ist. Denn ein Oberlandesgericht ist die höchste richterliche Instanz eines Bundeslandes. Somit ist es praktisch das Ende für die Ermittlungen.

Danach wollen die Nebenkläger beim Bundesverfassungsgericht Klage einreichen, wegen des Rechts der Angehörigen auf Aufklärung des Todesfalles. Da wird der Rechtsweg in Deutschland eingehalten und vollständig ausgeschöpft. Wie ist vor dem Hintergrund der Vorwurf des Justizversagens einzuschätzen?

Das ist etwas anderes. Eine Verfassungsklage beschäftigte sich nicht inhaltlich mit dem, was da in der Zelle in Dessau passiert ist. Sondern es soll geklärt werden, ob den Klägern das Recht auf Aufklärung zugestanden oder verwehrt wurde. Und das ist noch die Frage, ob so etwas überhaupt angenommen wird. Denn die Kläger können ja nicht beweiskräftig sagen: So ist es gelaufen. Sie können nicht sagen: Diese oder jene Person hat dieses Verbrechen begangen. Es sind wahrscheinlich mehrere Personen beteiligt gewesen bei den schweren Verletzungen. Das ist das eine.

Und das zweite ist: Das Umdeuten und Ignorieren von Fakten kann ich eigentlich nur als komplettes Justizversagen bewerten. Und ich finde besonders schlimm, dass die Polizei das auch als Sonderrecht zur Ausübung von Gewalt interpretieren könnte. Deswegen meine ich, dass es unbedingt nötig ist, dass etwas geschieht. Die Angehörigen haben gesagt: Wenn es in Deutschland nicht möglich ist, die Todesumstände aufzuklären, dann gehen wir an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Ich denke, das wird auch geschehen. Und dann hoffe ich, dass Deutschland verurteilt wird, den Fall nochmal aufzurollen.